Die Zeitkapsel

Das Suchgebiet ist sehr groß. Eines Tages kam ich an einen Steilhang. Wo der Felsen zutage trat gab es horizontale Spalten. Diese suchte ich ab, da sie exzellente und trockene Verstecke sind.

Schwer atmend kletterte ich den Hang empor, suchte Felsspalten und untersuchte sie mit dem Metalldetektor. Nach nicht einmal 5 Minuten erhielt ich ein großes, tiefliegendes Signal. Langsam bewegte ich die Suchspule hin und her um die Kontur des Objektes zu ermitteln. Sie war schlank und rechteckig. Vielleicht eine Blankwaffe? Ein Dolch sogar? Wenigstens schien es kein weiteres Stück Abfall zu sein. Mit meinem Handdetektor, einen 15 Euro Kabeldetektor aus dem Baumarkt, fing ich langsam an zu graben.

Hang mit waagerechten Felsspalten

Die Spalte war mit Sand und Kies gefüllt, ohne Zweifel erodiertes Gestein, das über Jahrzehnte und Jahrhunderte von der Decke gefallen war. In 5, 10 und 15 cm Tiefe konnte der Handdetektor nichts orten, was angesichts des ungewöhnlich großen Fundes auf eine größere Tiefe als üblich hinwies. Eine Überprüfung mit dem großen Detektor ergab, dass dort zweifelsfrei ein Metallobjekt liegen musste.

Das Loch wurde zu tief um ohne Werkzeuge weiterzugraben. Also kletterte ich vom Hang runter, rauf auf den Nachbarhang mit der Ausrüstung, schnappte den Spaten und kehrte zur Felsspalte zurück. Nach einer kurzen Verschnaufpause begann das Graben.

Als das Loch 30 cm tief war überprüfte ich es mit dem Handdetektor. Diesmal gab er ein Signal! Da er Objekte nur über geringe Distanzen orten kann, musste ich dem Objekt schon recht nahe sein. Ohne Spaten grub ich vorsichtig weiter. Dann sah ich zum ersten mal einen Teil der Oberfläche des Objektes.

Dies ist einer der magischen Momente des Sondengehens. Am Anfang sieht man nur einen winzigen Teil des Fundes. Während es mehr und mehr freigelegt wird, werden Theorien, was es denn wohl sein könnte, aufgestellt und wieder verworfen. Hoffnungen keimen auf und werden wieder zunichte gemacht. Die Situation ähnelt einem Fernsehquiz, in dem zunächst nur kleine Teile eines Fotos einer bekannten Persönlichkeit gezeigt werden. Nach und nach wird mehr gezeigt und wer die Person als erster erkennt hat gewonnen.

Nun hatte ich genug Sand entfernt um eine Art Zylinder zu sehen. Das sah ganz und gar nicht wie ein Dolch aus. Dünne Zylinder können sich als Läufe von Schusswaffen entpuppen, aber dazu war das Teil zu dick. Zylindrische und konische Formen können auf Munition hindeuten, deswegen grub ich nur langsam weiter. Lag vielleicht ein Granatenblindgänger dort oben?

Fundort Manifest In dieser Spalte lag das Rohr.

Nein. Das war kein Blindgänger. Um die Katze aus dem Sack zu lassen: es war ein Rohr. Ein ordinäres Klempnerrohr aus Stahl von 30 cm Länge. Zeitungspapier haftete ihm an. Man konnte in das Rohr nicht hineinsehen, da die Enden mit einer Art organischer Substanz verschlossen waren, die ich nicht sofort erkannte. Es sah etwa so aus, als ob man auf die Enden eines China-Böllers blickt.

Es war enttäuschend. Da klettert man wie eine Bergziege in den Hängen herum und findet nur ein gewöhnliches Stahlrohr. Was für ein Witzbold war hier mal raufgeklettert um seinen Müll zu entsorgen? Mit finsteren Gedanken musterte ich das Rohr und war schon drauf und dran es ins nächste Gebüsch zu werfen. Aber irgendwas kam mir an dem Rohr merkwürdig vor, nur wusste ich zunächst nicht was. Dann fiel es mir ins Auge: die Schriftart der Zeitungsfragmente, in der das Rohr eingewickelt war. Das war nicht der übliche Zeichensatz moderner Zeitungen, sondern wirkte altmodisch. Kann Zeitungspapier Jahrzehnte in so einer Felsspalte bleiben ohne zu verotten?

Leider lieferte auch ein intensives Studium der Papierfragmente kein Datum. Einige Minuten saß ich da oben am Hang und starrte auf das Rohr. Für einen zufällig vorbeikommenden Passanten wäre das sicher ein merkwürdiger Anblick gewesen. Langsam wurde es dunkel. Dann fand ich einen offenbar politischen Artikel, der mit den Worten begann "Es ist nun 8 Monate her, dass Adolf Hitler Reichskanzler wurde."

Hitler wurde am 30.1.33 zum Reichskanzler ernannt. Demnach stammte die Zeitung vom Herbst 1933 [1]. Schlagartig war das Rohr wieder hochinteressant. Es sah aus, als hätte jemand vor 7 Jahrzehnten dieses Rohr absichtlich vergraben. In diesem Fall muss der Inhalt für diese Person sehr wichtig gewesen sein, sonst hätte sie sich nicht diese Mühe gemacht dort extra hochzuklettern. Ich steckte das Rohr in meinen Rucksack und fuhr heim.

Rohr mit Resten von Zeitungspapier

Anmerkungen

[1] Später zerfiel die Zeitung in kleine Fragmente, die bestenfalls noch Briefmarkengröße hatten. Ein Fragment sah aus wie die Überschrift einer Liste von Wertpapierkursen, die die Kurse der letzten beiden Tage angab. Die Datumsangaben waren der 4. und 5. Oktober. Daher vermute ich, dass die Zeitung vom 6.10.33 stammt.

(C) Thorsten Straub, www.sondengaenger-deutschland.de